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Aus der Geschichte der Interpretation der h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach

Über Bachs eigene Aufführungen der h-moll-Messe ist wenig bekannt. Es darf als sicher angenommen werden, dass er das Werk nie als Ganzes aufgeführt hat. Die einzelnen Teile der h-moll-Messe entstanden zu weit auseinander liegenden Zeiten und wurden erst spät, wohl in Bachs letzten Lebensjahren zu einem Ganzen zusammengefügt. Die Partitur der h-moll-Messe vollendete Bach in den Jahren um 1746 bis 1748, gerade in der Zeit, in der der seine grossen zyklischen Werke Die Kunst der Fuge und Musikalisches Opfer schrieb. Die Übertragung bereits komponierter Werke (Sanctus) in diese Partitur und die Ergänzung zu einer kompletten Messe durch die Adaptierung geeigneter anderer Kompositionen lassen sich am ehesten so deuten, dass Bach neben seinen Passionen und anderen grossen Zyklen eine grosse lateinische Messe hinterlassen wollte.

Die Missa, also Kyrie und Gloria, ist wohl am 21. April 1733 anlässlich der Erbhuldigung des neuen Kurfürsten von Sachsen erstmals musiziert worden. Sie wurde für diesen Anlass komponiert. Das Symbolum Nincenum, das Credo, dürfte zur festlichen Neueinweihung der umgebauten Thomasschule am 5. Juni 1732 komponiert worden sein, das Sanctus wurde zu Weihnachten 1724 erstmals musiziert. Die folgenden Sätze Osanna, Benedictus, Agnus Dei und Dona nobis pacem sind ausnahmslos Umarbeitungen älterer Kompositionen und bei Fertigstellung der Gesamthandschrift in den letzten Lebensjahren Bachs gemeinsam mit dem Sanctus in den Gesamtband eingetragen worden.

Nach Bachs Tod kam der Partiturband in den Besitz seines Sohnes Philipp Emanuel. Dieser führte im Jahre 1786, also nach etwa 40 Jahren das Credo auf, wobei er es erheblich bearbeitete und „modernisierte“. Er fügte zahlreiche Legatobögen ein, veränderte die Textierung, trug dynamische Bezeichnungen ein und veränderte die Instrumentation – vor allem durch Weglassen der colla-parte geführten Oboen. Diese Veränderungen sollten das Werk dem Zeitgeschmack angleichen.
Ab 1811 begann sich die Berliner Singakademie in ihren Proben mit dem Werk zu beschäftigen. Zwischen 1816 und 1827 wurden einzelne Sätze in Wien, Berlin und Frankfurt aufgeführt. 1834 wurden mit der Berliner Singakademie erstmalig grosse Abschnitte der Messe aufgeführt. Die erste Aufführung des gesamten Werkes fand 1859, also über 100 Jahre nach der Niederschrift in Leipzig statt.

Alle diese Aufführungen brachten das Werk in stark bearbeiteter Form, mit hinzukomponierten Einleitungen und total veränderter Instrumentation. Die Chöre waren mit mindestens 100 Personen besetzt. Das Orchester setzte sich beispielsweise aus je zwölf 1. und 2. Violinen, zwölf Violen, zwölf Violoncelli und acht Kontrabässen sowie Klarinetten, Hörnern und Fagotten zusammen. Bei Aufführungen der damaligen Zeit wirkten 170 bis 200 Personen mit, deshalb hatten sie stets etwas Riesenhaftes an sich. Mit der Zeit wurden die schwersten Eingriffe in Bachs Partitur rückgängig gemacht.
1968 schrieb Harnoncourt zu seiner Aufführung der h-moll-Messe mit den Wiener Sängerknaben, dem Chorus Viennensis und dem Concentus musicus Wien, es müsse ein neuer Anfang gemacht werden. Man müsse zum Ausgangspunkt zurückkehren, zum musikalischen, klanglichen und geistigen Konzept Bachs.

In den 80-er Jahren hat Joshua Rifkin für Furore gesorgt: Er hat Bachs Werke mit Solobesetzung aufgeführt. Bis 2000 war diese Interpretation sehr umstritten, dann hat Andrew Parrott nach intensiven Recherchen in den Stimmbüchern der Thomasschule-Archive in Leipzig feststellen können, dass viele grosse Chorwerke, darunter die h-moll Messe, mit höchster Wahrscheinlichkeit von nur 8 Sängern aufgeführt worden sind.

Was sollen wir heute? Meiner Meinung nach ist es unmöglich, die Aufführungsbedingungen vom 18. Jahrhundert wiederherzustellen. Das Publikum hat inzwischen Schubert und Schoenberg gehört; es ist an andere Klänge, andere Konzertrituale gewöhnt. Wir können auch nicht wissen, ob die ursprüngliche Aufführungspraxis den Vorstellungen des Komponisten genau entsprach. Ich bin der Ansicht, dass es eigentlich unwichtig ist, wie viele SängerInnen im Chor singen, oder ob wir das A auf 415 oder 440 Hz stimmen für mich ist es wichtig, wie wir den Inhalt der Musik angehen und übermitteln.

Monica Buckland Hofstetter




 





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